STEIGER, ANATOLI

 

   

DAS MÄDCHEN MIT DER GITARE

1

„Wer war das schöne Mädchen mit der Gitarre?“ fragte plötzlich sein Bruder, als schon über alles gesprochen war und die Freude über das Treffen nach vielen Jahren etwas abgeklungen war. Er fragte es direkt vor dem Schlafengehen, nachdem sie die Frauen ungeduldig ins Haus gerufen hatten – es sei schon nach Mitternacht. „Ein tapferes wunderbares Mädchen“, sagte er. “Wenn nicht das Mädchen…“
Er erschrak. Er kannte nur ein einziges Mädchen mit einer Gitarre. Er konnte es noch nicht deutlich begreifen, worüber plötzlich sein großer Bruder sprach und ob er dasselbe Mädchen meinte, aber er spürte rasch, es würde sich um etwas ganz Unangenehmes, um ganz Unerträgliches, sogar Lästiges, sogar um ganz Schreckliches handeln, was sein ganzes Leben in ihm unvergesslich geblieben war.
„Was für ein Mädchen?“, fragte er zusammenzuckend. „Wo?“
„Damals…“, sagte der großer Bruder, „ich habe es gespürt, dass du auch da warst, aber mach dir keine Gedanken…“
„Lieber Gott!“ hauchte er hervor „Und du hast mir bis jetzt davon nichts gesagt…“
„Mach dir keine Gedanken, es ist schon lange her.“
Der große Bruder schaute nach oben, über den Fliederstrauch neben der Laube, wo sie saßen, über das Dach seines schönen Hauses und weitere Bäume und Dächer entlang der Strasse in die Stadt, auf den Turm der Kirche, auf den Orion im Süden und weitere Sterne links nach Osten, auf den ruhigen sanften Himmel, unter dem er einmal auf einen Schlag seine Kindheit und Jugend verloren hatte, und der kleine Bruder folgte traurig seinem Blick.
Lieber Gott, gibt’s für ihn schon keinen Pardon? Er war doch so jung, er war doch so naiv, er wollte doch in seinem Leben etwas erreichen, er wollte weiter studieren, lieben und geliebt werden. Hatte er damals Angst gekriegt? Eine lähmende Angst, obwohl er keiner von den Zaghaften war? Er wollte wie alle sein und nicht immer absortiert oder gejagt werden, er wollte ein renommiertes Institut absolvieren…„Das Schild hat Peter gemalt“, sagte sein Bruder. „Dein Neffe.“
„Ich weiß“, sagte er.
„Wenn nicht das tapfere Mädchen gewesen wäre, hätten sie uns auf lange Zeit eingesperrt. Und nicht für eine Nacht. Vor einer Woche hatte sich da eine Frau verbrannt, deshalb haben sie uns nichts getan, nur für eine Nacht in die Zelle gesteckt und am nächsten Tag wieder herausgelassen, und eine Woche gegeben, das Land zu verlassen… Aber mach dir keine Gedanken, Bruderherz, und gehen wir lieber schlafen, morgen müssen wir früh aufstehen. Es ist doch alles gut – du bist hier, ich bin hier, unsere Kinder… So wollte es unsere Mutter… Ich hab damals dir einen Brief geschickt, dass wir im Moskauer Hotel sind.“
„Ich hab ihn nicht bekommen.“
„So hab ich mir auch gedacht. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Sie gingen ins Haus, doch er konnte lange nicht einschlafen, wälzte sich zur Unzufriedenheit seiner Frau im Bett herum. Sie fragte:
„Denkst du noch immer an dieses Mädchen mit der Gitarre, das dein Bruder erwähnt hatte?“
Also hat sie zugehört. Er versuchte zu lächeln:
„Ich war jung, und es ist schon lange her…“
„An dir klebt jedes Luder“, sagte sie und drehte sich zur Wand um.
Er antwortete nicht. Wozu? Er wartete, bis seine Frau einschlief, und schlich sich aus dem Bett in den Hof, um eine Zigarette zu rauchen.

 

2

Sie hieß Lili. Unbewusst hatte sie ihm Kraft verliehen. Als sein Bruder ihm geschrieben hatte, dass er ausreisen will, wusste er, dass er aus dem Institut rausgeschmissen wird, und wollte von allein gehen. Der kleine Trost, dass sein Bruder seinen Namen als Verwandten in den Reisenpapieren nicht angegeben hatte, war zu schwach. Er wurde ständig von den Männern, die sich Schild und Schwert der Partei nannten, beschattet, und es war nur eine Frage der Zeit, dass sie alles herauskriegten. Und ade dann sein Traum, sein Studium und auch die wunderbare schöne und prächtige Stadt. Was soll das Ganze – keine Sicherheit, keine richtigen Freunde, keine richtige Freundin, Armut und Elend… Wie die alle seine schäbige Kleidung manchmal anschauten, wie sie ihre Lippen spöttisch verzogen! Aber er war überzeugt - trotzdem wird die Zeit kommen, er wird all den hochnäsigen Großstädtern, die in behüteten Verhältnissen aufgewachsen waren, zeigen, wozu der Bursche aus der Taiga, wie einige ihn nannten, fähig ist!
Nach Lilis plötzlichem Auftauchen beschloss er zu bleiben.
Ein Strohalm im Wasser - vielleicht kriegen die Ordnungshüter und auch die vielen freiwilligen Helfer, die heimlich schnüffeln und lauschen, doch nichts heraus… Unglaublich, aber vielleicht doch…
Sie hatte straffe, pralle Brüste und einen wunderbaren Körper. Sie war hoch, schlank, schön, aber etwas nachlässig gekleidet, einundzwanzig Jahre alt, genau wie er. Sie hatte auch eine wunderbare Stimme und sie war, wie alle sagten, eine sehr talentierte Dichterin. In sie waren viele verliebt. Sie hatte immer eine teure ausländische Gitarre, mal eine gelbe, mal eine rote, mal eine blaue hinterm Rücken. Wenn eine kaputt war, hatte sie ihren reichen und einflussvollen Vater gebeten, eine andere zu besorgen.

Sie hatten sich vor seiner Nachtschicht abends im Park zufällig getroffen. Er kannte sie bereits drei Jahre lang, hatte sie jedoch zwei Jahre nach dem ersten Kursus nicht gesehen. Sie wurde rausgeschmissen, weil sie während der Prüfung mit ihrer Gitarre auf einen Professor losging. Es hieß, der wollte die Prüfung bei sich zu Hause fortsetzen. Später durfte sie wieder zurück, allerdings nur als Fernstudentin.
Da das karge Stipendium für das Leben in einer großen fremden Stadt nicht ausgereicht hatte, arbeitete er als Heizer in einem Kesselhaus, dreimal nachts in der Woche.
An jenem Tag saß er auf der Parkbank, sammelte Kräfte, um ins Heizhaus hineinzugehen. Sie kam vorbei, wie üblich mit ihrer Gitarre. Wie geht’s? Was machst du hier? Er zeigte auf den Kohlenhaufen vor dem Kesselraum, der Haufen müsse hinein, damit die riesigen Öfen in der Hölle Futter kriegen. Sie: Schade, sonst könnten wir zusammen zu einer Party gehen…
Dann tauchte sie plötzlich in einer tiefen Nacht auf.
Es war ein Traum. Unreal.

Mit der Gitarre tauchte sie auf, ein wenig beschwipst. Sie könne nicht einschlafen, sie vermute(te?) sogar eine Spinne an der Fensterscheibe gesehen zu haben, in ihrer Wohnung, die nebenan sei.
Sie redeten bis zum Morgengrauen, man konnte schon aus dem offenen Fenster die Vögel singen hören. Sie hatte auch versucht, ein paar Schaufeln Kohle in den Ofen zu schieben, hatte auch von seiner üblichen Speise probiert - im Ofen gebackene Kartoffeln mit Brot, Salz und süßem Tee, Gedichte rezitiert und über Gott und die Welt geredet. Ihre schönen roten Lippen waren von angebrannten Kartoffeln verschmiert, auf ihren bleichen Wangen lag etwas Ruß, ihre weißen Jeans waren mit Kohlenstaub bedeckt, und als sie das sah, lachte sie laut auf und sagte, sie müsse schnell nach Hause, bevor es hell würde und sie jemand sehen könnte - hoffentlich ist die Spinne weg…
Aber dann, als er hinter den Ofen gegangen war, um sich zu duschen und umzuziehen, kam sie auch, nur in Schuhen – ihr Schatten glitt über die Wände, und auf einmal war sie da, schüttelte die Schuhe ab, lächelte verlegen und schlüpfe unter den noch warmen Wasserstrahl, der immer kälter wurde. Sie sagte, um ihre Verlegenheit loswerden zu wollen, sie müsse sich auch waschen. Und so standen sie, aneinander gepresst und merkten nicht, dass das Wasser immer kälter und bald eiskalt wurde. Der wunderbare Duft von ihrem Haar und Körper betäubte ihn, und er küsste sie, und sie erwiderte seine Küsse. Er streichelte sie mit einem kleinen aus der Hand rutschenden Stück Seife über Gesicht, Brüste und Rücken, und sie machte schweigend dasselbe mit ihm, und die Seife fiel auf den Boden und sie suchten sie gemeinsam und sie flüsterte: nein, nein, nicht hier, sie habe das noch nie getan, obwohl es immer verlockender würde, aber, man sage es, tue weh. Aber dann gab sie nach – es müsse sowieso irgendwann passieren, lieber mit dir, mit dir ist es so schön, und, och, alles Lüge, es tut überhaupt nicht weh, es tut gut.
Als sie das Kesselhaus verließ, sagte sie:
„Weißt du, ich habe oft an deine Worte während eines Seminars gedacht. Es ging um den „Faust.“ Einer sagte: ‚Mefisto gab Faust soviel Kräfte und Macht, Faust konnte soviel tun, alles, was er wollte… und was macht er? Nichts oder zuwenig…’ Und du antwortetest kurz und knapp: ‚Liebe ist nicht zuwenig…’ Schade, schade, schade, dass ich heute Abend mit meinem Vater nach Italien fliegen muss … Venedig, Rom, mein Kindertraum… Ich hab so lange gewartet… aber jetzt will ich nicht, ich will hier bleiben, dich abends sehen, jeden Tag sehen, aber mein Vater wird es nicht verstehen, er hat sich so viel Mühe gegeben, die Reiseerlaubnis zu ergattern. So viele haben sich da oben um diese Reise gestritten… Aber, weißt du, ich werde dir jeden Tag schreiben, Postkarten schicken, 14 Tage, 14 Karten, 14 Küsse.“
Sie lachte: „Du riechst nach Kohle und Feuer, nach Inferno, nach Hades, Hölle, Unterwelt; Ort der Verdammnis… Und ich auch, auch, auch…“
Er hat keine einzige Karte bekommen.
Und doch und doch, er wollte ihr glauben und hat auch geglaubt, dass sie die Karten geschickt hatte, und glaubte auch jetzt noch. Und obwohl er vor Ungeduld, Unsicherheit und Eifersucht fast den Verstand verloren hatte, weil er Tag und Nacht, sogar im Schlaf und in Träumen von dieser Nacht berauscht und zerrissen war, er hoffte auf jenen Tag - den Tag ihrer Rückkehr. Er zählte die Tage und Stunden, versuchte sich vorzustellen, wo sie jetzt ist, was sie macht, wo sie geht, wo sie steht, was sie sieht, obwohl er wusste, dass er das nie schafften würde, sich alles vorzustellen, was man da im Ausland machen kann, er war noch nie im Ausland und wird scheinbar auch nie ausreisen, es war schon gut, dass er eine Weile in Moskau leben durfte. Vielleicht ist er doch nicht allein in dieser schönen, riesigen und fremden Stadt, obwohl sie ihm keine Karten geschickt hatte.

 

3

Und es kam dieser Tag, der Tag ihrer Rückkehr.
Er beendete seine Nachtschicht, wusch sich lange und gründlich den Staub und Ruß weg, zog seine tägliche Kleidung an und verließ endlich den Kesselraum.
Die Dusche hat ihn munter gemacht.
Das Wasser aus dem Schlauch, den er wie immer abends hinter den heißen Ofen platzierte, war wie immer eine kurze Zeit warm, und wurde dann kälter und kälter. Er hielt es aus, sang und schrie dabei und spürte, wie die frische ermunternde Energie ihn erfüllte. Das erste Mal hatte er in diesem Kesselraum mit solch einem Ansporn gearbeitet. Er rezitierte Gedichte, lachte und sang, schrie in die dunkle flammende staubige Höhe hinein, verfasste auch seine eigene Improvisation im Hexameter wie „Ilias“ von Homer, den er in den Pausen gelesen hatte. Und die Karren mit Kohle rollten schneller als sonst, und der Feuer spuckende Ofen, den er Hades nannte, war nicht mehr so heiß, und das erste Mal schien ihm die ganze Nachtschicht nicht so widerlich zu sein. Er ist nicht allein, er ist jung, er wird geliebt, das Studium läuft gut… Fünfundzwanzig Abiturienten hatten sich um einen Studienplatz beworben, und er hat ihn bekommen und muss ihn bewahren. Warum eigentlich aufgeben?
Die aufgewachte Stadt war schön und munter.
Draußen war ein greller warmer duftender Frühlingsmorgen, der nach dem halbdunklen Kesselraum noch feierlicher aussah. Unerwartet für sich selbst machte er plötzlich einen gewagten Sprung über eine Pfütze, den er früher nicht geschafft hätte, und spürte, dass seine Beine, die nach der Nachtschicht immer gezittert hatten, stärker geworden waren.
Dazu war es noch Freitag, morgen und übermorgen kann er schlafen und machen, was er will.
Im Hof lag schon kein Schnee mehr, und einige Kirschenbäume waren schon mit kleinen saftigen Triebknospen bedeckt. Stare zwitscherten und ein Zaunkönig flötete ununterbrochen. Die Straßen erwachten rasch, obwohl die Uhr an der Bushaltestelle erst sechs zeigte. Ein respektvoller Mann mit Hut, Krawatte und Aktentasche eilte zur Haltestelle und stellte sich zufrieden als erster unter die Uhr am Straßenrand. Sogleich gesellten sich zu ihm noch zwei Menschen, dann kam ruck, zuck eine ganze Menge hinzu, sodass der Gehweg fast unpassierbar gemacht wurde. Doch statt des Busses kam zuerst das Straßenreinigungsauto vor dem ein breiter Wasserstrahl hing, und alle versteckten sich fluchend oder lachend hinter Bäumen und Buden.
Der Schuster, der wie immer um diese Zeit vor seiner kleinen Bude saß, hatte sich abgelenkt und merkte scheinbar die nahende Gefahr nicht. Er blickte in die andere Richtung, - zum Platz, wo das Lenindenkmal stand. Doch als der Wasserstrahl näher kam, schob er seine Kästchen mit Schuhkreme und Bürsten hinter seinen Rücken und blieb unberührt sitzen.

An den riesigen Füßen der gigantischen Figur, die die rechte Hand zu den Dächer hinauf streckte, um allen Völkern und Ländern die richtige Richtung zu zeigen, und in der Linken eine zerknüllte Mütze hielt, stand ein halbes Dutzend Menschen mit einem Plakat über die Köpfen. Etwa drei Meter von ihnen entfernt kauerten Kinder in Schuluniformen und roten Pionierhalstüchern und malten etwas mit Kreide auf die Betonplatten. Von der Seite kam eine Milizgruppe, die heftig versuchte, die Demonstranten wegzudrängen. Doch diese setzten sich wie auf Befehl blitzschnell auf den Asphalt. Die Uniformierten standen eine Weile hilflos da und berieten sich, einer benutzte ein Funkgerät. Von der Ecke, wo sich die Leninstraße und die Marxstraße kreuzen, eilte noch ein Dutzend Milizionäre herbei, doch sie wurden von den Wasserstrahlen der vorbeifahrenden Reinigungsanlage angehalten und warteten geduldig, bis das Reinigungsauto vorbei war. Beleuchtet von der aufgehenden Sonne, bildete der Wasserstrahl über dem Denkmal einen Regenbogen. Die Kinder und die Miliz am Monument fanden ein gutes Versteck – hinter der nach vorne gebeugten Statue. Die klitschnassen Demonstranten fanden Mut und standen auf, doch sie mussten sich gleich wieder setzen – die vorgerückte Truppe von Milizen hatte sich zweifach verstärkt und zählte jetzt ein paar Dutzend. Auch die Kinder kehrten taumelnd zurück, gingen in die Hocke und versuchten weiter ihre Kunst zu machen, sichtbar ohne Enthusiasmus und scheinbar ohne erwartete Ergebnisse, weil die Kreide keine Spur auf dem nassen Asphalt hinterlassen wollte, die Köpfe tief gesenkt, als ob sie es nicht wollten, dass ihre Gesichter gesehen werden sollten, als ob sie sich für die Erwachsenen schämen müssten.
Die Demonstranten wollten das Feld nicht räumen, sie hatten die Überlegenheit an Kräften des Gegners gesehen und rückten enger zusammen, und trotzdem wurden sie weggeschafft. An Beinen und Armen gefasst, wurden sie zu einem Lastwagen gezerrt, der etwas abseits stand. Ein junger Mann strampelte mit den Beinen und schrie: „Wir wollen in unsere Heimat zurück, auf die Krim! Weiter nichts…“
Der über der Straße und dem Lenin-Denkmal hängende Regenbogen war ein Bild von seltener Schönheit. Alle Farben der aufgehenden Sonne konnte man sogar zählen und abgrenzen. Die Straßen sahen wie gefärbt und lackiert aus.
„Komm mal her, Student“, sagte der Schuster, „ich putze deine Schuhe richtig“. Werther zögerte, es war ihm peinlich, überhaupt kein Geld in den Taschen zu haben:
„Lieber nicht… Und woher wissen sie, dass ich ein Student bin?“
„Ach, Junge. Leb mal so lange wie ich und sitz jeden Tag auf der Straße, dann wirst du es schon verstehen… Setz dich! Ich mache es kostenlos…“
Nach Aussehen und Aussprache war der Schuster ein Südländer – Georgier oder Tschetschene. Er hatte ein dunkles schmales Gesicht mit einer scharfen Nase, schwarzen Haaren und einem Schnurrbart. „Hast du das gesehen?“
„Ja“.
„Und wer hat Recht, wie meinst du? Die tragen einfach die Demonstrierenden fort! Und dann ist alles still und sauber… Noch gut so, früher hatten sie sie verprügelt und für paar Jahre eingesperrt, sogar erschossen… Du bist doch auch kein Moskauer? Ziemlich weit von hier, nicht war?“
Werther wollte nicht antworten, er fragte: „Was wollen die eigentlich?“
„Auf die Krim, von wo sie ungerecht vertrieben wurden. Kennst du dich in der Geschichte nicht aus? Oder studierst du nur die Geschichte der KPdSU? Von allen diesen Liebhabern... Liebhabern des Tötens, Liebhabern des Kukuruz, Liebhabern des Küssens… Also, woher kommst du?“
Werther lachte unwillkürlich auf und schaute sich schnell um. Sogar schon das könnte ihn sein Studium kosten. Einer von seinen Kommilitonen ist rausgeflogen wegen eines harmlosen Witzes, in dem man den Grund des Erdbebens in Taschkent gefunden haben wollte. In Moskau sei Breschnews Jackett mit allen Orden und Medaillen vom Stuhl gerutscht…
„Ural…“
„Und geboren?“
Werther zögerte, sagte jedoch:
„Im Ural.“
„Und wo genau?“
„In Iwdel.“
„Siehst du!“ Der Schuster durchbohrte Werther mit seinem scharfen Blick, und obwohl er lächelte, spürte Werther etwas Unheimliches darin, als ob der alles über ihn wüsste. Ist es ihm auf der Stirn geschrieben, dass er kein vollwertiger Mensch in diesem Lande ist? „Deine Eltern sind bestimmt nicht freiwillig dahin gezogen…„
„Warum?
„Iwdel, Krasnoturinsk, Sewerouralsk; Nischni Tagil, Serow.. – das waren die Orte der Verbannten und auch der

Verbrecher… Genauso wie der ganze Ural. Oder Sibirien, oder der Norden. Ich war auch dort in Iwdel, im Wald nicht weit von Polunotschnoje… Bestimmt nicht freiwillig. Ich hätte lieber in meinen kaukasischen Bergen gelebt. Aber die Scheißer da oben hat das gestört…“
Der Schuster lächelte kurz: „Keine Bange, Junge. Ich habe schon nichts zu fürchten, und du hast nichts gehört. Es kommen noch Zeiten, wo du alles ohne Angst sagen kannst – ja, die Krimtataren hatten Recht. Wie eigentlich auch die anderen. Die Tschetschenen, Inguschen, Osseten, die Volksdeutschen. Alle waren zu Unrecht verdammt und verbannt. Verbannt und verdammt… Wahrscheinlich auch deine Eltern. In diesem Lande ist es so – eine Hälfte der Bevölkerung sitzt ein und die andere bewacht sie. Sind sie noch am Leben, deine Eltern?“
„Gestorben…“
„Sie wären jetzt 50 bis 60 Jahre alt, wie ich eigentlich… Nicht viel… Und hast du keinen mehr auf der Welt?“
Leichtes Zittern ging ihm durch den Rücken, das Thema war von Anfang an gefährlich. Er hätte sich nicht setzen sollen. Sogar kostenlos die Schuhe putzen lassen. Jetzt sieht es so aus, als ob er dem Schuster etwas schuldig wäre… Er ist nach Moskau gekommen, um zu studieren, nicht zu meckern und zu demonstrieren. Er hat schon genug am Hals. Sein Lebenslauf, seine Verwandten, sogar sein Bruder… Wenn…, dann kann man das Studium vergessen. Es ist schon gut, dass die seine Nationalität akzeptieren und ihn studieren lassen…
Er bedankte sich: „Das haben sie gut gemacht, mit meinen Schuhen meine ich, aber jetzt habe ich keine…“
„Schon gut, Junge“, fiel der Schuster ihm ins Wort, „schon gut, komm mal wieder vorbei. Und finde deine Heimat…“
„Ich versuche es...“
„Versuch es… Und lern nicht nur die glorreiche Geschichte der KPdSU.“
„Ich lerne die Geschichte der Weltliteratur und des Lebens…“, sagte er und stand auf.
„Das ist schon etwas“, sagte der Schuster lächelnd.
Die Schuhe glänzten wie neu, und sogar einige Schäden an der Spitze und den Sohlen waren fast nicht erkennbar. Aber seine Frühlingsstimmung war dahin.
Er hatte keinen Groschen für den Bus und ging zum Institut zu Fuß. Am gewaschenen Denkmal war jetzt keiner mehr da. Auch das kleine Volk war verschwunden. Nur enttäuschte Tauben spazierten herum, um etwas Essbares zu finden.
Er beeilte sich, um rechtzeitig zum Anfang des Unterrichts an der Hochschule zu erscheinen.

4

Er hatte es gerade noch geschafft sogar die Bücher umzutauschen, und wollte noch kurz eine Zigarette rauchen, die den Hunger stillen sollte. Sich bei jemandem eine Zigarette zu erbetteln, war unter den Studenten eine gewohnte Sache und war nicht so peinlich, wie um ein Stück Brot oder um Geld zu bitten.
Gegen Erwartung reichte ihm Ewgeni mit einer beinahe übertriebenen Bereitschaft die Packung und lachte:
„Nur derjenige wird im gesunden Zustand sterben, der nicht raucht und nicht trinkt. Apropos, dich sucht diese Berühmtheit….“
„Was für eine?“ Sein Herz blieb fast stehen.
„Na, diese, mit der Gitarre!. Die Lili, meine ich. Was will die von dir?“.
„Keine Ahnung“, sagte er so gelassen wie nur möglich und dachte, dass Ewgeni ihm heute keinen Taler geben wird. Lili wollte doch ihn, und nicht Ewgeni sehen. Dann kam direkt auf ihn Bataew zu und fragte freundlich lächelnd:
„Hat er es dir gesagt?“ und zeigte auf Ewgeni.
„Ich wollte es gerade“, sagte Ewgeni.
„Lili hat uns gebeten, dir zu sagen, dass sie auf dich am Literaturhaus heute Abend warten würde, sie hat zwei Eintrittskarten besorgt… Du bist ein Glückspilz! Ich wollte schon immer dort hinein, aber ohne Schriftstellerausweis geht es nicht. Womit hast du das verdient?“
„Keine Ahnung“, sagte er wieder.
„Piss dir nicht ins Knie!“, sagte zu ihm Ewgeni und ging in den Hörsaal.
„Er ist einfach neidisch“, grinste Bataew verächtlich, „unser Komsomolzenführer, unser Parvenü, unser Behüter. Hüte dich vor solchen Freunden…“
Bataew mochte Ewgeni nicht.
Und plötzlich war der Frühling in vollem Gang wieder da, doch der Tag schleppte sich sehr langsam dahin. Nach dem Unterricht mit drei Rubeln von Bataew in der Tasche hatte er in der Kantine gleich sein Morgen-, Mittags- und Abendessen verzehrt, kaufte sich Zigaretten und ging ins Heim, um etwas zu schlafen. Zuerst konnte er nicht einnicken, dann aber war er eingeschlummert und hatte sich fast um eine halbe Stunde verspätet.
Lili war noch da.

Sie saß auf einer Bank am Ufer des Teiches unter einem schon blühenden Kirschbaum, umringt von einer Menge von Mädchen und Jungen. Es waren wahrscheinlich Studenten, genau wie er, nur ein bisschen besser und geschickter angezogen. Einige saßen sogar auf dem frischen Gras, das sich eilig zu Luft und Sonne durchgeschlagen hatte. Auch ältere Leute blieben manchmal stehen, um kurz zuzuhören, einige beistimmend, lachend und klatschend, andere missbilligend, kopfschüttelnd und verärgert. Zu der Menge, in Erwartung, etwas Essbares zu schnappen, hatten sich auch Schwäne und Enten gesellt. Die Abendsonne lag auf den Dächern ferner Häuser, glitt über die Türme und Pappeln und bedeckte die dunkle Wasseroberfläche mit hellen goldenen Strahlen.
Er verlangsamte seinen Eilschritt, blieb stehen.
Ihre Stimme, die Musik, ihr Aussehen, ihre Gitarre auf den Knien, die duftende Luft, als ob der Frühlingsduft von ihr ausginge und ihrem Parfüm zugehörte – alles war genau so irreal wie damals in der Nacht, als sie zu ihm in den Kesselraum gekommen war, irreal und schwankend wie sein Leben. Er wusste nicht, wohin er gehörte – zu seinem Bruder, der den Wunsch seiner Mutter erfühlen wollte und bestimmt auch den eigenen Wunsch, oder hierher, wo alles bis jetzt fremd war außer Lili.
Lili, den Blick auf den Teich gerichtet, sang leise und geistesabwesend ein für ihn unbekanntes Lied. Als sie die letzte Strophe vorbrachte „Wir wachsen immer mehr und freier, gehen immer weiter, mutiger. Wir leben voller Frohsinn heute. Und morgen wird’s noch besser sein!“ und zum Schluss heftig auf die Saiten schlug, und alle lachten, hielt ein Greis mit vielen Medaillen auf der Brust das nicht aus, schlug mit seinem Stock auf den Asphalt und schrie empört: „Wohin schaut nur die Miliz!“ Die Antwort eines Jungen: „Geh, alter Held, weiter“, machte ihn noch wütiger, und er tobte schon richtig laut: „Wer hat euch erlaubt, hier im Park antisowjetische Lieder zu singen? Ich hohle gleich die Miliz.“ - “So, ein alter Trottel“, sagte der Junge auf dem Gras. „Wo lebst du eigentlich, in welcher Zeit?“ - „Wir haben gekämpft, für euch“, erwiderte der Alte. „Wir haben euch ein schönes Leben gegeben!“ - „Hättet ihr lieber für euch selbst gekämpft! Behaltet euer Leben für euch allein, wir brauchen so ein Leben nicht…“
Und als ob diese Auseinandersetzung die Miliz gehört hätte, kamen schon zwei in Uniform die Allee entlang, um nach den Rechten zu sehen.
Der Alte sah Lili an und sagte in die Menge hinein, ohne einen konkret anzusprechen: „Kuck doch mal, wie die angezogenen ist! Was fehlt ihr eigentlich, was passt ihr nicht in unserem Lande? Die lebt doch wie Gott in Frankreich…“
„In Frankreich lebt man auch nicht vom Brot allein“, sagte einer der Jugendlichen, „Obwohl das auch wichtig ist… Schau mal dahin auf die Schlange vor den Brot- oder Fleischläden, oder auf deine geflickte Hose. Es ist nicht zu fassen – wir leben in einem elenden armen abgeriegelten Nest und sind noch stolz darauf!“
„Ein Stalin fehlt euch!“, sagte der Alte und sah in Richtung der zwei sich nähernden Uniformierten. „Wartet ab!“
„Ach, geh doch nach Hause, du alter Trottel!“
Lili hatte ihn erblickt. Ihr Gesicht hellte sich auf.
„Jungs, verzeiht, ich werde erwartet, danke fürs Zuhören. Opa, sei nicht so traurig, ich habe auch einen Opa, er versteht uns auch nicht… Tschüß ihr alle!“
Und sie eilte zu ihm.

Ach, war sie schön! Etwas rot im Gesicht, leicht in der Bewegung, schlank und hoch! Die blonden langen Haare hingen ihr bis zu den Schultern herab, der helle Regenmantel war nicht zugeknöpft - nur der Riemen von der Gitarre hielt ihn ein wenig zusammen, aber so, dass auch die weißen Jeans und die rote enge Bluse zu sehen waren. Rasch wie ein Vogel kam sie mit einem fröhlichen Lächeln über das ganze Gesicht auf ihn zugeflattert.
Ihm stockte der Atem, als ob ihm die Luft nicht ausreichen würde. War das alles real? Aber sie stand vor ihm in Wirklichkeit, umarmte ihn in Wirklichkeit, leicht, sanft, blieb so stehen, die glänzenden Augen aus nächster Nahe auf ihn gerichtet, ihn auf die Wange, nein, auf den Mundwinkel küssend.
„Noch einmal, noch!“
„Die verhaften uns noch“, sie wies mit dem Kopf auf die Ordnungshüter, „wegen Verstoß gegen die kommunistischen Sitten… Aber sag mal, warum hast du nicht geschrieben, ich habe so gewartet, gewartet, gewartet?“
„Wie? Nach Venedig? Ohne weitere Angaben? Wohin?“
Jetzt war sie etwas bestürzt: „Auf jede Postkarte habe ich die Adresse sorgfältig drauf geschrieben, auf einer war sogar das Hotel im Bild drauf! Elf Tage war ich da, elf Tage habe ich mich an dich erinnert, jeden Tag habe ich dir geschrieben, geschrieben, geschrieben! Ach, unsere Post! Jetzt kriegst du gleich einen ganzen Haufen von…“, sie zögerte, „von Lyrik, Liedern, Freude, sogar Liebe… Liebe meines Herzens, ehrlich und… trivial gesagt… Ach, diese Post!“
Sie lachte.
Und plötzlich wusste er, dass nicht die Post schuld war. Einige Briefe von seinem Bruder kamen auch nicht an, die anderen sahen so aus, als ob man sie geöffnet hätte. Bataew hatte ihn gewarnt vor Ewgeni. Ewgeni? Oder doch ein anderer? Wer – das ist unwichtig, wichtig ist der Fakt. Die verborgene schmerzende Vermutung; die ihn nicht das erste Mal heimsuchte, war schwer zu verdrängen, doch er riss sich zusammen. Wir werden sehen. Wenn mich der Herrgott nicht aufgibt, dann frisst mich auch kein Schwein!
Er sagte lächelnd: „Ich hab alle diese Tage im Schatten deiner Hand verbracht… Auch im Zweifel…“
„Das freut, freut, freut mich!“ Sie küsste ihn wieder. Ein warmer Hauch berührte seine Wange. „Aber an mir darfst du nicht zweifeln… Als ich keine Antwort von dir bekommen hatte, habe ich an dir gezweifelt und noch mehr über dich nachgedacht… Aber ich will dich nicht zu viel loben, sonst wirst du deine Nase so hoch tragen, dass ich sie nicht erreichen kann.“
„Weißt du was, Wilhelm Werther?“ sagte sie, als sie sich dem Literaturhaus, diesem Traumhaus aller Studenten, in das keiner ohne Schriftstellerausweis eingelassen wurde, näherten: „Ich hab eine Idee. Gehen wir nicht in dieses Literaturhaus, verbringen wir lieber den Abend zusammen. Ich will so viel von dir wissen! Und ich hab Hunger, Hunger, Hunger…“
Sie hat ihn das erste Mal mit Vornahmen genannt und sogar ihn richtig ausgesprochen.
„Keine Widerrede, keine Diskussion, ich lade dich ein“, sagte sie und umarmte ihn. Sie flüsterte ihm ins Ohr: „Ja, ja essen, um Kraft für andere Geschichten zu gewinnen, du bist zu mager geworden, keine Widerrede, aber wenn du dein Honorar bekommst, dann lädst du mich ein… Einverstanden?“
„Aber was für ein Honorar? Es wird noch lange dauern…“
„Nicht zu lange. Weißt du es nicht? Im nächsten Monat erscheinen zwei von deinen Geschichten in der Zeitschrift, dann zahlst du… Bah, du bist baff!“
„Es ist zu schön, um wahr zu sein.“

Sie sah ihn an und lachte: „Hast du vergessen, wessen Tochter ich bin? Eines berühmten Schriftstellers und auch eines Redakteurs der Zeitschrift… Ich habe deine Geschichten auf dem Tisch meines Vaters gesehen und gelesen… Da stand schon Vaters Vermerk ‚In Druck’ drauf. Als ich sie sah, erinnerte ich mich, dass ich auch mal Studentin war, dann an deine Worte über Doktor Faust, dass er das Richtige getan hätte – ihm gehörte die ganze Welt, aber er wählte die Liebe, dann an unser zufälliges Treffen im Park vor deinem Kesselraum, wo du mir gesagt hattest, du gehst in die Hölle, um den Offen zu heizen, damit die ganze noble Umgebung und ich inklusiv, das hast du betont, in Wärme lebt. Ich hatte deine Geschichten nach Hause genommen und sie in aller Ruhe gelesen. Dann bin ich zum Kesselraum gegangen, schön, dass er in der Nähe ist, habe tapfer die schwere Tür ins Inferno aufgemacht, wo du statt zu heizen, Homer gelesen hattest… Ich will ein bisschen scherzen, und dann, dann, dann hast du mich gefangen genommen, genommen, genommen oder ich bin freiwillig in deine Gefangenschaft geraten. Am frühen Morgen habe ich dann das Manuskript wieder auf den Tisch meines Vaters gelegt, damit es weiter geleitet wird, und bin mit meinem Vater nach Italien geflogen, und dann jeden Tag dir Postkarten geschickt und meine Eindrücke geschildert, wunderbarere Eindrücke, sage ich dir, ein Märchen, wovon ich lange träumen werde. Schade, am Vatikan sind wir nur vorbei gegangen, der Vater wagte es nicht hineinzugehen, wer weiß, da hätten seine Freunde ihm einen Strick drehen können, er erzählte dabei, dass es seinem Bekannten, der nur eine Zeitung aus dem Westen mitgenommen hatte, den Posten gekostet hatte.“
Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn die Straße entlang, von einem Cafe vorbei und blieb vor einem anderem stehen - das ist das richtige.
Er war noch nie in so einem noblen Restaurant gewesen. Sie merkte seine Beklommenheit und begann wieder ununterbrochen zu sprechen, über dies und das, und als sie schon saßen und bedient wurden und etwas Wein getrunken hatten, wiederholte sie es wieder. Ihre glänzenden dunklen Augen glichen den Oliven, die er zum ersten Mal auf seinem Teller sah, und er dachte wieder, dass das alles irreal sein müsste, wenn sie ihn so liebevoll ansah.
Sie sah sich kurz um, der Ober beugte sich über den Tisch und fühlte wieder die Gläser. Sie sagte:
„Prost! Trinken wir auf dich! Auf deine Geschichten. Damit alles gut geht. Erzähl mir was von dir… Etwas habe ich zwischen den Zeilen gelesen.“
Er zwang sich zu einem Lächeln: „Das bin nicht ich, das sind erfundene Personen.“
„Ach, wem willst du so was weismachen? Eigentlich studiere ich auch im literarischen Institut und schreibe manchmal auch… War es wirklich so, dass der Hund, der vom dem Herrchen vom Schlitten gestoßen wurde, mit drei Wolfen fertig wurde und aus den letzten Kräften nach Hause kam, sich an seinem Herrchen rächte, es tötete und selber tot umfiel?“
„Ich bin kein Hund…“
Sie lachte: „Warst du auch auf den Schlitten?“
„Ja.“
„Und warum hat der Hund dir nichts angetan?“
“Ich hab ihn geliebt, und das war nicht ich, der ihn vom Schlitten gestoßen hatte… Wir waren zu zweit, hatten ein Beil, einen starken Hund, wir hätten uns retten können, doch der Nachbar war in Panik geraten…“
„Ich hab geweint…“
Und plötzlich spürte er zu ihr Vertrauen, volles Vertrauen:
„Ich auch. Er war mein einziger Freund…“
„Hast du Eltern, Geschwister?“
„Einen Bruder.“
„Ich weiß überhaupt nichts von dir. Erzähl, erzähl, erzähl…“
Sie musste einen Ton getroffen haben, dem er ohne weiteres vertraute, und doch zögerte er:
„Was ist hier zu erzählen? Ich habe keine Eltern, nur einen Bruder, er ist ein Jahr älter als ich. Wir haben uns immer gut verstanden, fast gespürt, wenn es dem anderen dreckig ging. Wenn wir in der Schule in eine Mannschaft kamen, Volleyball oder Fußball, besonders Volleyball, dann schrien alle – die Gebrüder Grimm müssen getrennt spielen. Ich wusste immer, was er machen will, wohin er läuft, und gab ihm immer den Ball an die richtige Stelle, sodass er hochsprang und ihn so stark über das Netz beförderte, dass keiner parieren konnte. Er machte dasselbe, sein Zuspiel war schnell und präzise. Aber das änderte sich nach einem Unfall…“
„Was für ein Unfall?“

Und er erzählte. Der freundliche sportliche lustige starke Mann, dem viele Mädchen hinterher liefen, der jetzt hinkende Johann, sein großer Bruder, der zu ihm wie ein Vater und Freund zugleich war, war verbittert nach einem Vorfall mit den Zecken, die ihn und seinen Freund gebissen hatten. Am nächsten Tag bekam Johann Fieber und musste ins Krankenhaus, ohne zu ahnen weshalb. Sein Freund, der Sohn eines Abteilungsleiters in der Stadtverwaltung, war auch schon da. Man hatte festgestellt, dass sie beide von Enzephalitis erregenden Zecken gebissen worden waren und dringend ins Gebietszentrum Swerdlowsk mussten, das fünfhundert Kilometer entfernt war. Sein Freund wurde weggebracht und kam nach einem Monat kerngesund zurück, Johann aber durfte als Sohn einer Sondersiedlerin die Stadt nicht verlassen. Die Mutter hatte sich im Krankenhaus und in der Stadtverwaltung die Augen ausgeweint, doch es hat nichts geholfen, obwohl alle, mit denen sie gesprochen hatte, zustimmten – ja, er muss ins Gebietskrankenhaus, wo es ein geeignetes Personal und entsprechende Arzneien gibt. Es war da jemand, der stärker als sogar der Vorsitzende der Stadtverwaltung war, aber der hatte die Mutter nicht empfangen. Gott sei Dank konnte man die Gehirnentzündung und die Lähmung stoppen, aber sein linken Fuß war nur begrenzt beweglich und man sah, wenn man wollte, wie er hinkte, obwohl er sich mit starkem Willen und Training viel Mühe gegeben hatte, das Unheil loszuwerden.
„Ein guter, guter, guter Bruder hast du… Wo ist er jetzt?“
“Ich weiß es nicht genau. Ich bekomme keine Briefe. Aber ich weiß, ihm geht’s derzeit nicht gut. Gehen wir zum Roten Platz.“
“Keine Lust.“
„Warum?“
„Ich hätte lieber darauf eine Bombe geworfen.“
„Oho! Der Platz ist doch nicht schuld daran.“
„Aber die, die ihn in Besitz genommen haben. Von da kommen doch alle Leiden… Meine Großmutter im Ural hat mir erzählt, ihr Mann, mein Großvater, wurde in den zwanziger Jahren als Kulak, also als Volksfeind abgestempelt, verhaftet und verbannt, nur weil er zwei Kühe im Hof gehabt hatte. Lächerlich – verbannt aus dem Ort, wohin andere Verbannte aus der Ukraine oder dem Kaukasus gebracht wurden… manchmal auch aus dem Norden, Iwdel oder Sewerouralsk, wohin der Großvater abtransportiert wurde. Die so genannten Revolutionäre wollen sich einer vor dem anderen wichtig machen und zeigen, wie toll sie arbeiten. Der Großvater kam nie mehr zurück, und mein Vater… mein Vater, der ging nach Moskau, hat angegeben – er habe keine Eltern, und lebte weiter… und so bin ich auf die Welt gekommen.“
„Aber das sind doch keine dummen Leute. Das wurde doch alles mit Absicht gemacht, um die Macht nicht zu verlieren“, rutschte es plötzlich aus ihm heraus.
Jetzt war sie erstaunt: „Wow!“
Sie stand auf und küsste ihn: „Aber wir können ja mal schnell vorbei spazieren, wenn du willst...“ Dann sagte sie nachdenklich: „Aber du hast in deinen Geschichten viel ausgelassen, man kann nur ahnen, was dass für ein Leben war… Und wo es war… Sicherlich irgendwo in einem Krähwinkel, wo die so genannten Volksfeinde verbannt waren und sind… Politische, Tataren, Osseten und auch Deutsche, die seit Peter und Katharina in Russland lebten…

 

5

Hätte er lieber den Roten Platz nicht erwähnt! Aber von einem starken unbegreiflichen Trieb geleitet, wollte er dahin. Und hatte danach es tausendmal bereut. Aber er wusste, wenn er nicht gegangen wäre, hätte er es ebenfalls zigmal bereut.
Es begann zu regnen, und er schlug vor, zurückzukehren, doch Lili sagte, sie seien nicht aus Zucker.
Auf dem fast leeren Platz sah man gleich drei dunkle Gestalten, die, eng aneinander gepresst, ein Plakat vor sich hielten.
Er verhielt den Schritt, blieb stehen.
„Was ist?“ fragte Lili.
Er schnappte nach Luft und konnte seine Beine nicht bewegen: „Gehen wir woanders hin.“
„Nein! Wenn wir schon hier sind, will ich mir das ansehen“, sagte Lili. Sie ging auf die Gruppe zu, zu der gerade drei Milizionäre eilten.
Und alles ging blitzschnell.
„Kommt mit“, sagte der Leutnant leise. „Und packt eure Sachen zusammen!“
„Lassen Sie sie friedlich demonstrierten!“ sagte Lili.
„Verschwinde, du Hure, sonst buchten wir dich auch ein!“
„Versucht es!“ sagte Lili laut.
„Und die Hure nehmen wir auch mit“, sagte der Leutnant zu den zwei anderen. „Aber schneller, schneller!“
Lili drehte sich um und schrie: „Ich komme gleich, warte!“ Sie wollte noch etwas sagen, doch, bedrängt von den Uniformierten, musste sie sich beeilen. Dann verschwanden alle, die Geführten und die Führenden, hinter einer Geheimtür in der Mauer.
Er stand da wie vom Blitz getroffen. Er nahm alles gedämpft auf, und die Passanten schwammen an ihm wie Fische vorbei. Er ließ den Kopf sinken, und holte mit zitternden Händen die vorher gekaufte Packung Zigaretten aus der Tasche. Die Streichhölzer zischten und zerbrachen, nur eins gab nach und erzeugte eine Flamme. Er ließ dann Asche und Kippe auf den Boden fallen und merkte es nicht einmal, bis ein Passant ihn zurechtwies: „Räum deinen Dreck weg, hier ist der Rote Platz, ein heiliger Platz, kein Klo…“
Man hörte eine Uhr schlagen – achtmal.
Ein heiliger Platz? Seit Iwan den Schrecklichen wurde hier das Volkspack geköpft, gepeitscht und in die Verbannung geschickt… Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, es war eine dumpfe Vorahnung von etwas Kommendem, Unausweichlichem, er war dem Weinen nahe, was er seit Kindheit nicht getan hatte. Er sah auf die Glut. der Zigarette, der Rauch kam in die Augen, er zog und zog an den Zigaretten bis es ihm schwindlig wurde und Tränen in die Augen stiegen. Und obwohl keiner in der Nähe war, wischte er sich verstohlen die Tränen samt den Regentropfen aus dem Gesicht.
Die Uhr am Spaskiturm schlug das zweite Mal an diesem Abend, machte ihn aufmerksam auf den Rest der Sonne am Horizont hinter den dunkelroten Wolken. Dann wurde es auch vor seinen Augen dunkelrot, er musste sich setzen und sackte einfach auf das Pflaster. Zerredete Sätze des Tages schwammen wie Farben in einem Kaleidoskop und fanden keinen Halt.
Verschämt versuchte er aufzustehen. Er hörte eine Männerstimme: „Kann ich dir helfen? Steh auf! Ja, so. Du hast aber gut die Flasche gedreht…“, dann die Stimme von Lili, ein wunderbares Glöckchen, obwohl es etwas zu schrill klang: „Er hat nichts gedreht, lassen Sie ihn in Ruhe!“
„Ich wollte nur helfen“, sagte der Mann beleidigt.
„Schon gut“; sagte Lili. „Danke.“ Und zu ihm: „Bist du okay? Dich hat es ja gut mitgenommen. Keine Bange, ich bin hier. Es ist gut, einen berühmten Vater zu haben. Komm von hier weg!“

Es regnete stark. Schweigend gingen sie zur nächsten Metrostation, stiegen zweimal um. Lilis Haus war wirklich nicht weit von seinem Kesselraum. Patriotische Lieder aus den Fenstern, Versprechungen, so zu leben und zu kämpfen wie es Lenin vermacht hatte, nasse rote Plakate, rote Fahnen und wieder das gut gewaschene Denkmal mit der vorgestreckten Hand.
In seiner Geburtstadt Iwdel hatten sie auch so ein Denkmal, aber nur etwas kleiner. Während der feierlichen Enthüllung des Lenindenkmals hatten Schulen und Fabriken, auch Kohlengruben frei bekommen, damit sie zum Platz vor dem Regierungsgebäude kommen. Sein großer Bruder, der scharfsinnige Trottel, lachte am helllichten Tag laut auf und gab ihm einen Schubs in die Rippen. Kuck malt, sagte er, der hat zwei Mützen! Wer? fragte er seinen Bruder. Na, der Marmormensch da auf dem Sockel... Er konnte seinen Bruder nicht verstehen: Wer? Der Bruder lachte wieder: Der Lenin… Eine Mütze in der Hand und die andere auf dem Kopf… Schade, dass die vielen Gefangenen nicht frei bekommen hatten an so einem glücklichen Tag, die hätten sich riesig gefreut…
Der Bruder wurde verhaftet und kam erst nach drei Tagen zurück, gerade zu diesem Zeitpunkt, als das Monument gesprengt wurde. Das hat aber keiner gesehen, es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, wie Vieles in dieser Umgebung.
Wo ist er jetzt, sein Bruder, wo ist seine Schwägerin, sein Neffe Peter. Was ist mit ihnen?
Die drei Tage im Gefängnis hatten das Wesen des großen Bruders völlig verändert. Er wollte plötzlich ohne Rücksicht auf Verluste raus aus diesem Land. Und wollte auch ihm, dem kleinen Bruder, nicht schaden…
Und als sein Bruder endgültig beschlossen hatte, das Land zu verlassen, komme was da wolle, durchlebte er eine Zeit großer Mutlosigkeit. Wir sagen es dir gleich, hat der Mann in der Personallabteilung gesagt, wohin Mitte des erstes Kurses er bestellt wurde (es saßen noch zwei schweigende Männer ihm gegenüber), wenn wir es herausfinden, dass irgendwelche Verwandte von dir im Westen leben oder dahin wollen, ist es aus für dich in diesem vorbildlichen Institut, dem Institut der Ideologie, dem Institut der Schriftsteller, dem Institut der Volksaufklärer. Fünfundzwanzig Abiturenten vom ganzen Lande haben sich um einen Studiumplatz beworben, aber wir haben dich ausgewählt, bestimmt auch für deine Fähigkeiten… Aber Leistung und Talent sind nicht alles. Vergiss das nicht!
Wie könnte er es vergessen?! Keiner in seiner Stadt, sogar seine Bekannten, seine ehemaligen Mitschüler wollten es glauben, dass er es geschafft hatte, in Moskau zu studieren, in einer von dem Klassiker der russischen Literatur Gorki gegründeten Hochschule.
Als er klein war, hat ihn seine Mutter (an Vater konnte er sich nicht erinnern), oft gewarnt, die Realität nicht zu verstehen. Mann kann sich nicht hinter Büchern verstecken, auch wenn sie wunderbar sind, man kann auch nicht alles glauben, was in der Schule gesagt wird oder in den Zeitungen steht. Wie frei wir sind, sagte sie, kannst du von deinem Bruder erfahren, der jetzt ein Krüppel ist, oder vom Vater, der hier umgekommen ist. Und als die Mutter erfuhr, dass er die Prüfung in Moskau bestanden hatte, sagte sie: „Ich hätte nur eine Bitte. Schreib alles, was du musst, aber nichts über Gott. Mein lieber Gott wird dich bewahren, leb nur nicht jenseits der Realität.“
Die Mutter war damals fünfzig geworden, hätte noch einen Mann haben können, auch nach dem Aussehen, klein, sympathisch, mit einem wunderbaren Lächeln, wie bei Lili. Sie hatte seit der Verbannung bis auf den letzten Tag in ihrem Leben bei der Eisenbahn gearbeitet. Dicke Hose, dicke Jacke, Filzstiefel, Soldatenstiefel, eine Arbeit für kräftige Männer. Vorschlaghammer, Spitzhacke, Schaufel… Sie war erschöpft, sie war krank und gekränkt, seelisch und körperlich. Aber das fiel ihm erst im Nachhinein auf, als sie gestorben war.
Nach der Aufhebung des Verbannungsgesetzes für die deportierten Deutschen, hatten sie ihr vorgeschlagen, wegzuziehen. Doch sie blieb entschlossen – hier sei ihr Mann begraben, ihr Vater.
Lili versuchte sich zuerst wieder zu fassen. Sie war still und nachdenklich. Aus einem offenen Fenster klang ein verbotenes Lied: Schneidet mir die Kehle durch, hackt mir ab die Hände. Nur zerreißt mir bitte nicht meine sieben Saiten.

Sie sagte, es sei Wyssozki, sie sei mit ihm bekannt, er und Andere versammelten sich manchmal bei ihrem Vater.
„Ich liebe meine Gitarre auch so sehr… Und noch mehr die Freiheit. Die Halunken haben so einen schönen Abend verdorben. Ich wäre nie in diesem Lande geblieben, wenn ich Verwandte drüben hätte.“
Er antwortete nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Soll er es ihr sagen?
„Ehrlich. Du bist bedrückt. Ich hab es schon am Roten Platz gemerkt. Du bist so still geworden. Ist das die demonstrierende Familie, die so barbarisch weggebracht wurde? Ich vergesse das Kind nicht, den Schreck in seinen Augen, nie… Und die zu allem bereiten Eltern… Ist das die so gelobte sowjetische Demokratie? Die beste auf der Welt, wie überall geschrien und geschrieben wird? Gegen Demokraten helfen nur Soldaten? Aber lassen wir das. Wir lassen uns den Abend nicht verderben, wir lassen uns nicht unterkriegen von diesen Satrapen! Ich hab mir so sehr gewünscht, dich zu sehen und mich so gefreut, als du am Teich auftauchtest, und auf diesen Abend… Aber trotzdem, wir lassen uns nicht kleinkriegen… Kommst du hoch?“
Er zögerte.
„Was ist?“ fragte sie.
Er fand nichts Besseres zu sagen als:
„Und dein Vater?“
Sie lachte: „Hast du Angst? Ich habe eine eigene Wohnung. Kennst du Goethe: „Paulinchen war allein im Haus, die Eltern gingen beide aus“?
Er überlegte, ob er ihr es sagen sollte. Er musste es loswerden. Ihm war es klar, dass er nicht nur verliebt war, es war etwas Größeres, Wichtigeres, es war Liebe. Und wenn es echte Liebe ist, dachte er, dann muss ich ihr alles sagen… Keine Geheimnisse, kein Bangbüx sein, keine Flasche.
„Ich muss dir was sagen“, sagte er.
„Sag es!“ Ihr Gesicht leuchtete auf. „Ich auch…“
„Mein Bruder…“
„Einen guten, guten, guten Bruder hast du.“
„Es war mein Bruder“, sagte er schnell, bevor ihm die Stimme versagte und er schon ahnen konnte, dass er Lili verloren hatte.
„Was?“
„Und meine Schwägerin, und mein Neffe Peter…“
„Ich verstehe nicht“, sie stolperte und ihr Gesicht änderte sich, zuerst langsam, dann rasch, wurde dunkler, und die leuchtenden Augen wurden auch dunkler und schmaler, und ihre starke Gestalt sah etwas kleiner und zerbrechlicher aus. Sie ließ den Arm fallen und wiederholte:
„Dein Bruder, dein Neffe, deine Schwägerin…“
„Aber was hätte ich tun können? Mit dem Kopf gegen die Wand, gegen Windmühlen kämpfen?“
Sie blieb entsetzt stehen, sie wollte es nicht glauben.
„Und du fragst noch was?“ Sie schrie: „Ihnen Mut geben, sie unterstützen, sie trösten… damit sie sehen, dass sie nicht allein auf der Welt sind, in dieser Stadt am kalten Abend…“
„Es hätte nichts geholfen…“
„Ach! Und ich hab mich fast verraten, dass ich dich liebe. Und das sind keine Windmühlen! Das sind Schweine! Und die Wand ist marode, bald wird sie zerfallen.“
Die breiten Straßen waren fast leer, die Fenster der riesigen Gebäude fast alle dunkel, Lili schwieg lange. Dann drehte sie sich um und ging zur Pforte, fast gelassen ging sie, blieb jedoch plötzlich stehen, wirbelte herum, riss die Gitarre vom Rücken, schaute ihm direkt ins Gesicht, holte Atem, holte mit dem Arm aus, warf ihm noch einmal einen Blick zu und schlug die Gitarre gegen die Hausecke. Die überstrapazierten Saiten heulten auf, stöhnten und klagten und platzten nacheinander in verschiedenen Klangtönen.
Er wartete, bis im dritten Stock das Licht anging. Jetzt war alles real, jetzt stand er mit zitternden Knien da, japste nach Luft und wusste nicht, was er tun sollte – bleiben war unmöglich und gehen war genauso unmöglich. Ja, es war real, wie alles, was mit ihm heute und gestern passiert war, real wie sein Vater, an den er sich nicht erinnern konnte, wie seine Mutter, die mit fünfzig gestorben war, wie sein hinkenden(r) Bruder, der sich jetzt wer weiß wo befand, wie Lili, die er für immer verloren hatte, wie der Rote Platz, von dem er einst begeistert war.
Noch vor kurzem hätte er Berge versetzen können, jetzt wusste er nicht, ob er noch Kraft findet, das Studentenheim zu erreichen.

6
Sie starb am Fluss in einem sibirischen Wald in der Nähe von Nowosibirsk. Gitarrenlyrik war nicht mehr offiziell verachtet, und die Liedermacher versammelten sich jeden Sommer in verschiedenen Ortschaften Russlands, in den Bergen, an Flüssen. Sie sangen am Lagerfeuer. Wladimir Wyssozki war der berühmteste Gitarrenlyriker des Landes. Er liebte Nowosibirsk.
Auch Lili Kalinin war bekannt mit diesem Genre. Sie wurde jedes Jahr zum Treffen eingeladen. Ihr neues Lied, das sie mit ihrer wunderbaren leisen Glöckchenstimme vorgetragen hatte, wurde mit großer Begeisterung aufgenommen. Man jubelte ihr zu. Sie zog sich anschließend erschöpft zurück, setzte sich und neigte ihr Gesicht hinunter zur Gitarre, die in ihrem Schoß lag, und hörte den anderen still zu.
Im Morgengrauen waren die Lieder verklungen und die jungen Leute zogen sich ermüdet in ihre Schlafzelte zurück.
Bataew schrieb, dass er dabei gewesen wäre. Sie trugen sie drei Kilometer durch den Wald, dann über die nächste kilometerlange Eisenbahnbrücke in die Stadt. Sie gingen hektisch und schnell und achteten nicht auf die Verbotsschilder des Eisenbahngeländes. Sie waren es gewöhnt, Regeln zu verletzen, denn sie waren Dichter, rebellisch und jung. Wenn plötzlich ein Zug aufgetaucht wäre, hätten viele von ihnen keine Chance mehr gehabt, unverletzt davonzukommen.
Sie rannten zum Krankenhaus. Es war geschlossen. Sie schrien und klopften, bis es geöffnet wurde und der verschlafene Arzt herauskam.
Vor einem Jahr hatte sie seine Adresse in Deutschland herausgefunden. Eine Karte ohne Absender und Poststempel steckte dann kurze Zeit später in seinem Postkasten. Er wusste nicht, wer sie in seinen Briefkasten gesteckt hatte. Er versuchte lange durch Dutzende Telefonate nach Amerika, Israel und Russland, bis auch er ihre Adresse erkundete. Doch es war schon zu spät. Sie war gestorben. Zwei Monate tot, zwei Monate zu spät... Zwei Monate?
Bataew schrieb noch, dass er sie auch geliebt hatte, dass er auch damals wegen eines Liedes, dass er gedichtet und gesungen hatte, aus dem Institut geschmissen wurde, doch nach zwei Jahren wieder zurückkommen durfte, dass Ewgeni, wie vermutet, eine Karriere beim Geheimdienst gemacht hätte. Man hatte ihn in einer Uniform mit Oberstschulterklappen gesehen. Wahrscheinlich, so schrieb Bataew, haben wir, du und ich, auch Anteil daran, dass er so rasch an die Macht gekommen ist.
Sie schrieb: "Sehr schade, dass mit uns nichts geworden ist..."

***
Der Mond schien über des Bruders Haus und strahlte im Frührot. Im Hause überschlugen sich minutiös die Wecker. Zuerst klingelte es im Erdgeschoss bei seinem Bruder und der Schwägerin, dann im ersten Stock beim Peter, dann im Dachgeschoss, wo seine Ehefrau schlief.
"Wie all die Jahre", dachte er.

2009